Orphismus, Futurismus, Rayonismus und Pittura metafisica: Bewegung und Erstarrung

Orphismus, Futurismus, Rayonismus und Pittura metafisica: Bewegung und Erstarrung
Orphismus, Futurismus, Rayonismus und Pittura metafisica: Bewegung und Erstarrung
 
Um 1912 entwarf Robert Delaunay mit der Serie der »Fenster-Bilder« das Modell einer neuen »reinen Malerei«, die er allein auf der Farbe und den Simultankontrasten nebeneinander gesetzter Farben aufbaute. Damit zog er die Konsequenz aus den Formzertrümmerungen des Kubismus, führte aber auch die mit dem Impressionismus frei gewordene Kraft von Farbe und Licht weiter. Dies gründete aber nicht allein auf künstlerischen Überlegungen aus der Stille des Ateliers. Delaunay war wie viele seiner Zeitgenossen vom gesellschaftlichen Umbruch zur Moderne fasziniert, die sich gerade in Paris in einer Fülle neuer technischer Erfindungen bemerkbar machte - dem Automobil, dem Flugzeug, neuen Medien wie der Fotografie, der Kinematographie und der Telegrafie.
 
Maler und Dichter spiegelten diese vielfältigen, sich vermischenden Sinneseindrücke in ihren Arbeiten wider. Guillaume Apollinaire schuf ein Gedicht mit dem Titel »Zone«, das verschiedene räumlich wie zeitlich getrennte Lebenssituationen in einem simultanen Gedankenfluss zusammenfasste. Simultaneität war das Losungswort der Zeit. Während aber in Paris die Futuristen lautstark die Urheberschaft einer Malerei reklamierten, welche die Phänomene Bewegung, Zeit und Rhythmus in sich vereinte, beharrte Delaunay auf seiner ganzheitlichen Vision. In der Komposition seiner abstrakten Bilder, ab 1913 in den »Kreisformen« und auch in großen figürlichen Kompositionen angelegt, verschmolz er die Erfahrungen des modernen Lebens mit den leuchtenden Farbkontrasten zu einer brillanten Synthese, zu einem Sinnbild der Moderne. Apollinaire sah in den »Fenster-Bildern« vor allem die poetische Kraft der Farbe wirksam und taufte die Stilrichtung »Orphismus« - in Anspielung an den sagenhaften antiken Sänger und Leierspieler Orpheus, der durch seine Kunst sogar wilde Tiere, Steine und Bäume zu bezaubern vermochte. Licht, Farbe, Poesie und Musik in einer neuen Kunst zu verbinden, entsprach aber auch den schon von den Symbolisten angestellten Überlegungen zu den sinnlichen Beziehungen zwischen Malerei und Musik. Wenig später ordnete Apollinaire in seinem Buch »Die Maler des Kubismus« (1913) weitere Pariser Künstler dem Orphismus zu: Fernand Léger, Francis Picabia und Marcel Duchamp, der von allen Genannten am wenigsten unter dieses Etikett passte.
 
Zu den orphistischen Malern gehörte auch Sonia Delaunay-Terk, die Frau Robert Delaunays, die mit einer ganz eigenen Handschrift an dieser Revolution der Malerei durch Farbe und Abstraktion teilnahm und bis ins hohe Alter nicht nur Bilder, sondern auch kunstgewerbliche Entwürfe, Bucheinbände, Teppiche und modische Accessoires in Simultankontrasten schuf. Der von Apollinaire unterschlagene tschechische Maler František Kupka malte zu dieser Zeit ebenfalls abstrakte Bilder, die mit den Mitteln der Bewegungsfotografie, der »Chronofotografie«, komplexe Bewegungsabläufe darstellten und sie mit leuchtenden Farben kombinierten.
 
Von den Erfindungen der Fotografie und Kinematographie zehrte auch der Futurismus, der sich bedingungslos für das industrielle Zeitalter und den Rausch der Geschwindigkeit begeisterte und den Bruch mit allen klassischen Stil- und Denkformen der Vergangenheit forderte. Schon Marinettis Gründungsmanifest, erschienen am 20. Februar 1909 in der Pariser Zeitung »Le Figaro«, bestimmte mit seinem agressiven Ton das künftige provokative Vorgehen der futuristischen Bewegung, der sich im Februar 1910 Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla und Gino Severini anschlossen.In zahlreichen Auftritten, einer Flut von programmatischen Schriften und publikumswirksamen Inszenierungen schwangen sich die Futuristen zu den kulturellen Alleinvertretern eines zukunftsorientierten, fortschrittsgläubigen Denkens auf, das sich mit ungebrochenem Optimismus den Verheißungen der modernen Technik verschrieb. Mit solchen Äußerungen bereiteten die italienischen Futuristen allerdings auch dem Faschismus Mussolinis, dessen Kulturpolitik einige von ihnen in führenden Stellungen förderten, den Boden.
 
Abgesehen von einigen wenigen Meisterwerken schufen die Futuristen, die vor allem von der kubistischen Ästhetik wichtige Impulse erhielten, keinen einheitlichen Stil. Die eigentliche Bedeutung des Futurismus lag vielmehr in seinen kunsttheoretischen Überlegungen. Mit ihrem schier unerschöpflichen, zukunftweisenden Ideenpotenzial waren die Futuristen der künstlerischen Entwicklung, der sie selbst noch angehörten, weit voraus. In ihrer Forderung nach Aufhebung der traditionellen Gattungsgrenzen zwischen Malerei, Plastik, Musik und Literatur schufen sie die Grundlagen des grenzüberschreitenden Environments, der Installation, der theatralischen Inszenierung von Kunst.
 
Elemente der futuristischen Ästhetik flossen auch in die Malerei dieser Jahre ein - und zwar immer dort, wo sich die betreffenden Künstler bereits von dem Sog der Moderne hatten mitreissen lassen. Bei den Kubisten finden sich futuristische Elemente bei Jean Metzinger und Albert Gleizes, in der deutschen Malerei bei Franz Marc, August Macke, Ludwig Meidner, Otto FreundlichFreundlich, Otto, Johannes Itten und Lyonel Feininger. Auch die russische moderne Malerei nahm - etwa im Kubofuturismus - Einflüsse der Pariser Avantgarde auf. Besonders deutlich wird dies im Werk von Michail Larionow und seiner Frau Natalija Gontscharowa, die durch mehrere Aufenthalte in Paris und die endgültige Übersiedlung in die französische Hauptstadt seit 1917 in engem Kontakt zur dortigen Kunstszene standen. Der von ihnen begründete »Rayonismus« - in Anlehnung an die physikalische Strahlentheorie benannt - übernahm vom Kubismus die prismatische Aufteilung der Fläche, vom Futurismus das Moment der Bewegung und vom Orphismus die Dynamik des Lichts, die durch Farbkontraste hervorgerufen wird. Die dargestellten Gegenstände haben daher kaum eine Bedeutung und verschwinden meist ganz in der Zergliederung der Fläche durch konzentrierte, farbig abgesetzte Lichtstrahlenbündel. Da das bildnerische Ziel, Dynamik und Bewegung durch Lichtstrahlen darzustellen, im Medium der Malerei nur begrenzt erreicht werden konnte, gingen Larionow und Gontscharowa bald zu Bühneninszenierungen mit bewegten Lichtspielen über, die sie etwa für Sergej Diaghilews »Ballets Russes« entwarfen.
 
Das träumerische Gegenstück zur dynamischen Bewegung des Futurismus war die »Pittura metafisica«, die um 1917 von Giorgio De Chirico und seinem Bruder, dem Komponisten und Dichter Alberto Savinio, in Ferrara begründet wurde und der sich dann Carlo Carrà und Giorgio Morandi anschlossen. De Chirico und seine Freunde wandten sich der vom Futurismus verachteten Themen zu, der Kunst der Museen, der altehrwürdigen Architektur der italienischen Städte, den klassischen Schriften und Mythen. Statt bewegte Gegenstände in aufgesplitterten Facetten darzustellen, malte De Chirico statisch aufgestellte, isolierte Dinge in plastischem Volumen und gebrochenen Farben. Perspektive und Raum wurden wieder wichtige bildnerische Mittel, um Bilder magischer Ausstrahlung zu schaffen. De Chiricos Werke der »metaphysischen Phase« zeigen leere, von kulissenartigen Gebäuden umstellte Plätze; auf dieser Bühne erscheinen leblose, zu Skulpturen oder Puppen erstarrte Figuren, die einen langen Schlagschatten werfen. Licht und Raum werden »metaphysische Größen«; unabhängig von der physikalischen Wirklichkeit führen sie in Bereiche des Traums und der Imagination, an die später der Surrealismus anknüpfen sollte.
 
Dr. Hajo Düchting
 
 
Dokumente zum Verständnis der modenen Malerei, herausgegeben von Walter Hess. Bearbeitet von Dieter Rahn. Neuausgabe Reinbek 1995.
 
Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915—1932, herausgegeben von Bettina-Martine Wolter und Bernhart Schwenk. Ausstellungskatalog Schirn-Kunsthalle Frankfurt. Frankfurt am Main u. a. 1992.
 
Kunst des 20. Jahrhunderts, herausgegeben von Ingo F. Walther. 2 Bände. Köln u. a. 1998.
 Thomas, Karin: Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 101998.

Universal-Lexikon. 2012.

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